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Ein lütter Aufruf zur Mitarbeit / Sammelband Antisemitismus und Anarchismus
(English version below)


Der 7. Oktober 2023 markiert einen Wendepunkt. Die Hamas verübte das größte Pogrom an Jüdinnen und Juden seit der Shoa – und auf der ganzen Welt gingen Menschen auf die Straße und feierten. Seither ist die antisemitische Gewalt überall auf der Welt eskaliert. Nicht nur in Deutschland brennen wieder regelmäßig Synagogen und werden Jüdinnen und Juden auf offener Straße angegriffen. Leider ist es wenig überraschend, dass eine treibende Kraft hinter den antisemitischen Eskapaden der westlichen Länder Progressive und Linke sind. Doch auch Anarchistinnen und Anarchisten reihen sich hier ein. Verklausuliert als „Israel-Kritik“ oder als Antizionismus brechen sich antisemitische Ressentiments bahn und es wird Stimmung gemacht, Gewalt entschuldigt (wenn nicht selbst angewendet), Opfer verhöhnt und jedwede Prinzipien werden vergessen.
 
In dem Sammelband möchten wir sowohl die aktuellen Ereignisse bzw. die aktive Teilnahme der Anarchistinnen und Anarchisten daran dokumentieren und kritisch einordnen, als auch der Frage nachgehen, wie es dazu kommen konnte. Darüber hinaus wäre es wichtig, eine anarchistische / anarchosyndikalistische Perspektive auf den Konflikt zu entwerfen, die den Antisemitismus wie auch die islamistische Ideologie reflektiert, genauso wie die – trotz anhaltender Proteste stattfindende – Rechtsentwicklung der israelischen Gesellschaft und, wie Teile der IDF beklagen, eine immer rücksichtslosere militärische Gewalt, bei der die früheren Bemühungen, zivile Opfer möglichst zu vermeiden, über Bord geworfen werden. Es ginge darum, in all dem eine Perspektive zu entwickeln, die auf die Emanzipation gerichtet ist, ohne sich in leeren Floskeln zu verlieren.
 
Antisemitismus ist in der anarchistischen Bewegung kein neues Phänomen (Proudhon, Bakunin, Pouget etc.), doch war sie über Jahrzehnte eng mit dem Judentum verbunden. Michael Löwy hat zu Recht Gemeinsamkeiten zwischen dem jüdischen Messianismus und der anarchistischen Utopie aufgezeigt, die neben Lebenswegen wie dem von Rudolf Rocker oder den vielen jüdischen Anarchistinnen und Anarchisten, auf die besondere Verbundenheit hinweisen.
 
Wie kam es, dass diese Verbindung gelöst wurde? Wie kann es sein, dass Anarchistinnen und Anarchisten antisemitische Parolen skandieren, mit Islamisten paktieren und Mord und Vergewaltigung rechtfertigen?
 
Hinweise könnten sein, dass die anarchistische Theorieentwicklung (somit vielleicht auch ihre Utopie) nach dem zweiten Weltkrieg abbrach und sich der Neoanarchismus ganz unterschiedlicher Elemente bediente, wie Spencer Sunshine dargelegt hat. So ließe sich auch erklären, dass die erst ambivalente Haltung der Anarchistinnen und Anarchisten zum Zionismus in offene Feindschaft umschlug; der Anarchismus näherte sich immer mehr der Neuen Linken an und adaptierte die sowjetische Ausdrucksweise, in der man das Wort Jude durch Zionist ersetzte und immer in einen negativen Kontext stellte – Rudolf de Jong hat darauf hingewiesen. Anarchistische Stimmen, die voll des Lobes für Israel waren, wie von Augustin Souchy, mussten so ungehört bleiben und eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Zionismus, Antisemitismus, Israel und Palästina fand nicht statt. Stattdessen fand eine „regelrechte Identifikation“ (Rudolf de Jong) mit Palästina statt – warf man der einen Seite Nationalismus vor, machte man sich auf der anderen mit einem Nationalismus gemein.
 
Gleichzeitig muss in Betracht gezogen werden, dass das Problem deutlich tiefer liegt. Stellt Antisemitismus auch eine (falsche) Reaktion auf die kapitalistischen Verhältnisse dar, so kann die mangelnde begriffliche Klarheit in der anarchistischen Theorie ein Einfalltor für diesen darstellen. Wo von Klasse und Klassenkampf, von Sozialismus und befreiter Gesellschaft gesprochen wird, ohne klar zu haben, was das eigentlich bedeuten soll, ohne zu sehen, wie sich gesellschaftliche Verhältnisse verändern, öffnen sich immer Möglichkeiten für reaktionäre Denkmuster, trübt sich leicht der Blick auf die Emanzipation und wird verstellt und verklärt was eigentlich das Ziel war. Insofern müsste über die eigene Utopie, über den Weg zur Befreiung und über die Frage wer eigentlich auf welcher Seite der Barrikade steht, grundsätzlich nachgedacht werden, um zu verhindern, dass es zur Verbrüderung mit der Reaktion kommt.
 
Dies sind nur Thesen für die Entwicklung, die zur heutigen Situation führte. Sie müssen nicht zwingend richtig sein. Die Situationen stellen sich in den verschiedenen Ländern, in denen sich die anarchistische Bewegung und Theorie teilweise auch sehr unterschiedlich zusammensetzt und entwickelt hat, sicher auch unterschiedlich dar.
 
Wir bitten um Beiträge unterschiedlicher Arten und Form zum Themenkomplex Antisemitismus und Anarchismus in den verschiedenen Ausprägungen, bezogen auf die Geschichte und vor allem die Gegenwart wie auch die Situation in verschiedenen Ländern – oder auch über das genannte hinaus. Gerne nicht kürzer als 5.000 und nicht länger als 30.000 Zeichen.

Texte könnt ihr an syndikat@syndikat-a.de schicken.  Die Red. wird euch kontaktieren.




 

Call for participation / Anthology on antisemitism and anarchism

October 7, 2023 marked a turning point. Hamas carried out the largest pogrom against Jews since the Shoah - and people all over the world took to the streets to celebrate. Since then, anti-Semitic violence has escalated all over the world. It is not only in Germany that synagogues are regularly burning again and Jews are being attacked on the streets. Unfortunately, it is hardly surprising that progressives and leftists are a driving force behind the anti-Semitic escapades in Western countries. But anarchists are also joining in. Cloistered as “criticism of Israel” or as anti-Zionism, anti-Semitic resentment breaks out and the mood is stirred up, violence is excused (if not used), victims are ridiculed and any principles are forgotten.

In the anthology, we would like to document and critically classify the current events and the active participation of anarchists in them, as well as examine the question of how this could have come about. Furthermore, it would be important to develop an anarchist / anarcho-syndicalist perspective on the conflict that reflects both anti-Semitism and Islamist ideology, as well as the - despite ongoing protests - right-wing development of Israeli society and, as parts of the IDF lament, increasingly ruthless military violence, in which earlier efforts to avoid civilian casualties as far as possible are being thrown overboard. In all of this, it is important to develop a perspective that focuses on emancipation without getting lost in empty phrases.

Anti-Semitism is not a new phenomenon in the anarchist movement (Proudhon, Bakunin, Pouget, etc.), but it was closely linked to Judaism for decades. Michael Löwy has rightly pointed out similarities between Jewish messianism and the anarchist utopia, which, alongside life paths such as that of Rudolf Rocker or the many Jewish anarchists, point to the special connection.

How did this connection come to be severed? How can it be that anarchists chant anti-Semitic slogans, make pacts with Islamists and justify murder and rape?

Indications could be that the development of anarchist theory (and thus perhaps also its utopia) broke off after the Second World War and neo-anarchism made use of very different elements, as Spencer Sunshine has explained. This could also explain why the initially ambivalent attitude of anarchists towards Zionism turned into open hostility; anarchism moved closer and closer to the New Left and adapted the Soviet way of expression by replacing the word Jew with Zionist and always placing it in a negative context - Rudolf de Jong has pointed this out. Anarchist voices full of praise for Israel, such as those of Augustin Souchy, thus had to remain unheard and a differentiated debate on Zionism, anti-Semitism, Israel and Palestine did not take place. Instead, there was a “veritable identification” (Rudolf de Jong) with Palestine - while one side was accused of nationalism, they made common cause with nationalism on the other side.

At the same time, it must be taken into account that the problem lies much deeper. If anti-Semitism is also a (false) reaction to capitalist conditions, then the lack of conceptual clarity in anarchist theory can be a gateway for it. Where there is talk of class and class struggle, of socialism and liberated society, without having a clear idea of what this actually means, without seeing how social conditions change, there are always opportunities for reactionary thought patterns, the view of emancipation is easily clouded and what was actually the goal is obscured and transfigured. In this sense, we need to think fundamentally about our own utopia, about the path to liberation and about the question of who is actually on which side of the barricade in order to prevent fraternization with reaction.

These are just theories for the development that led to the current situation. They do not necessarily have to be correct. The situations are certainly different in the various countries in which the anarchist movement and theory has developed very differently.

We ask for contributions of different types and forms on the subject of anti-Semitism and anarchism in its various forms, in relation to history and, above all, the present as well as the situation in different countries - or even beyond the aforementioned. No shorter than 5,000 and no longer than 30,000 characters.

You can send texts to syndikat@syndikat-a.de. The editors will contact you.


Der erste Kommentar:

"Hi there, I read about your planned edited book which sounds great - i thought you might be interested in the attached, perhaps you find some things or references in there interesting. 

also this, if you don't kow it anyway:
Best wishes, M."


Ein Kommentar von Philippe Kellermann:
 

"Es freut mich, dass ihr die Initiative übernommen habt, einen solchen Sammelband in Angriff zu nehmen. Ich weiß nicht, ob ich es schaffen werde, einen Beitrag zu diesem äußerst komplexen Themenkomplex beizusteuern, werde es aber versuchen. Dessen ungeachtet ist es meines Erachtens dringend an der Zeit, die Bedeutung und Rolle des religiösen Faschismus - in welcher Gestalt auch immer - wieder auf die Tagesordnung zu setzen und daran zu erinnern, welche mörderischen Dynamiken hier freigesetzt wurden, werden und noch werden können. „Über die Herde, und neben den Heuchlern, mit denen sie Macht und Führung teilen, erhebt sich die schreckliche Gruppe der zornigen und fanatischen Gläubigen. Rigoroser, weil ungleich aufrichtiger als die Heuchler, sind sie auch bösartiger und viel unbarmherziger als diese. Menschlichkeit ist ihnen unbekannt; im glühenden Eifer für ihren Gott verachten und hassen sie die Menschen und empfinden nichts dabei, sie zu tausenden, zu zehntausenden, zu hunderttausenden abzuschlachten. […] All diese Männer, diese Religionshelden, waren und sind in inbrünstiger und ausschließlicher Liebe zu ihrem Gott entbrannt, und in grausiger Konsequenz wünschen sie sich nichts sehnlicher, als alles, was ihnen ketzerisch und profan, d.h. menschlich erscheint, zu verbrennen und auszurotten, zum höchsten Ruhme ihres Gottes, des himmlischen Herrn“ (Michael Bakunin: Die Politische Theologie Mazzinis, 1871). Und all diejenigen, die im Religiösen irgendwie rebellischen gar emanzipatorischen Momente des Aufbegehrens zu erkennen meinen, sei zumindest zu bedenken gegeben: „Im übrigen wissen wir aus der Geschichte, daß die Priester aller Religionen Verbündete der Tyrannei gewesen sind, mit Ausnahme der Priester verfolgter Kirchen. Und selbst diese Priester haben die Mächte, die sie unterdrückten, zwar bekämpft und verflucht, gleichzeitig aber ihre eigenen Gläubigen diszipliniert und dadurch immer wieder den Grundstein für eine neue Tyrannei gelegt. Die geistige Versklavung, welcher Art sie auch sei, wird immer mit natürlicher Konsequenz zur politischen und sozialen Versklavung führen.“ (Michael Bakunin: Die revolutionäre Frage, 1868)

Philippe Kellermann"